Das Buch zur Kakophonie

Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder und die „Kakophonie“ – die Spur führt nach Gießen

Der Beitrag wurde als Telefon-Interview
für Radio-Hörer in Gießen konzipiert

Anmod.:

Vor elf Jahren hatte es Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD, auf den vierten Platz gebracht – mit seiner „Kakophonie“ bei der Wahl zum „Wort des Jahres“ 2002. Übrigens Kakophonie mit  e i n e m ,k’, nicht mit ,ck’ in der Mitte, abgeleitet von dem
griechischen Wort kakos = schlecht. Damit hatte der damalige Bundeskanzler die
koalitionsinternen Missklänge bei der Debatte über Steuererhöhungen gemeint und
den Begriff „Kakakophonie“ quasi aus dem Hut gezaubert. Dass das Wort nun
ausgerechnet etwas mit Gießen zu tun haben könnte, hat mein früherer Kollege
Guido Schmitz herausgefunden – und der ist jetzt am Telefon, er lebt nämlich
seit sechs Jahren auf der Nordseehalbinsel Nordstrand bei Husum.

Herr Schmitz, was ist das für eine Spur, die nach Gießen führt?

Zunächst Mal: Schöne Grüße in meine Heimatstadt Gießen – und damit  s i n d   wir auch schon bei der Spur, nach der Sie gefragt haben. Als gebürtiger Giessener hatte ich mir, aus einer Art Lokalpatriotismus, unlängst „Liebknechts
Volksfremdwörterbuch“ beschafft. Der Autor, Wilhelm Liebknecht, war – wie ich –
gebürtiger Giessener und – anders als ich – ein führender Sozialdemokrat. Mich
hatte als Büchernarr schlicht und einfach interessiert, was denn dieser
Giessener „Promi“ in seinem Fremdwörterbuch so geschrieben hat.

Haben Sie am Ende bei Ihrer Recherche ein hunderte Seiten umfassendes Lexikon g e l e s e n ???

Ja! Aber nur ungefähr so wie ein Telefonbuch. Man sucht etwas und überfliegt die Seiten. Und ich muss Sie enttäuschen: Ich habe gar nicht nach Bundeskanzler Schröders Kakophonie gesucht. Ich fand einfach schon interessant, wie das Buch entstanden war; und das hatte Wilhelm Liebknecht im Vorwort geschrieben: Wegen seiner politischen Aktivitäten war er 1870 zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt worden und – heute würde man flapsig sagen – im „Knast“ hatte er dann die Zeit genutzt, und ein Fremdwörterbuch geschrieben, das 1874 erschien. Ich habe nur die 13. Auflage von 1913, nicht die Erstauflage. Aber 13. Auflage heißt ja: Liebknechts Buch war weit verbreitet, wenn es so viele Auflagen erlebt hat. Und da scheint doch sehr nahe zu liegen, dass sich Liebknechts Volksfremdwörterbuch auch und gerade in der Bibliothek eines SPD-Bundeskanzlers fand und Gerhard Schröder dann s o
auf die Kakophonie gestoßen war.

Hat Liebknecht denn auch erwähnt, warum er eigentlich ein Fremdwörterbuch verfasst hat?

Das hat er! Es soll ja vorkommen – natürlich nicht bei Ihrem Sender und bei mir, versteht sich – dass Journalisten Worte gebrauchen, die andere gar nicht richtig verstehen. Radio-programme gab es damals noch nicht, aber Wilhelm Liebknecht schrieb im Vorwort, ich zitiere: „Das Volksstaat-Fremdwörterbuch war ein Kind des Gefängnisses. Als ich mit Bebel […] mich unfreiwilliger Muße erfreute, wurde […] von verschiedenen Seiten der Wunsch geäußert, ich möge doch, speziell für den Gebrauch der Leser volkstümlicher Zeitungen und Schriften, ein billiges und handliches
Fremdwörterbuch zusammenstellen. […] Wir haben ein Fremdwörterbuch für das Volk
liefern wollen – einen Schlüssel zu den in der Tagesschriftstellerei und der vom Volke zugänglichen Literatur vorkommenden Fremdwörtern.“

… Und dann haben Sie also das ganze Lexikon durchgeblättert und fanden dort auch den Begriff der „Kakophonie…

… Genau, auf Seite 203. Es gab aber auch noch ein paar andere Überraschungen. Wenn Sie wollen, nenne ich gerne ein paar Kostproben…

Was haben Sie denn noch Schönes entdeckt?

Ich konnte eine Bildungslücke schließen: Dank Liebknecht weiß ich jetzt: Beim abwertenden „Krethi und Plethi“ handelt es sich um – Zitat – „verketzerte hebräische Worte, die aus allerhand Volk bestehende Leibwache des Königs David bezeichnend; allerlei Gesindel“. Bei „Querelen“ findet sich die Erläuterung „querelles d’ Allemand – eigentlich deutsche Krakeel[erei] – Streit um nichtige Ursache […], da die Deutschen bei den Franzosen für sehr streitsüchtig gelten.“ Und unter „Liberalismus“ kann man lesen: „Die sich so nennende politische Richtung, welche in
f r ü h e r e n Zeiten die bürgerliche Freiheit vertrat.“

Das Beste – vermute ich mal – haben Sie sich bestimmt für den Schluss aufgehoben…?

Genau. S o wie es ein Nachrichtenmann natürlich n i c h t tun sollte: „Job“ definiert Wilhelm Liebknecht auf Seite 199 so: „ein Geschäft, wobei etwas zu verdienen ist;
(meist) ein schmutziges Geschäft (namentlich von Regierungsbeamten, die ihr Amt
zu persönlicher Bereicherung mißbrauchen)“.

Oh Gott, und das ging jetzt über den Sender…